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Rav Ciner zu Paraschat Re’eh 5779

"Banim atem laSchem – Ihr seid Kinder G-ttes"

 

Die Parascha dieser Woche, Re‘eh, zeigt uns auf klare Weise die Einstellung, die wir aus Sicht der Torah gegenüber dem Tod haben sollten. "Banim atem laSchem Elokechem, lo titgodedu ... leMet" ("Ihr seid Kinder des Ewigen, eures G’ttes; ihr sollt euch wegen eines Toten keine Einschnitte machen") [14:1]. Bei den Völkern war es Sitte, sich Kratzer und Einschnitte zu machen, um der Trauer und den Gefühlen einem lieben Dahingeschiedenen gegenüber Ausdruck zu verleihen. Uns ist es verboten, sich auf diese Weise zu misshandeln. Warum? Weil wir Kinder G‘ttes sind.

Was ist der Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass wir Kinder G‘ttes sind und dem Verbot, sich wegen dem Tod eines lieben Menschen Wunden zuzufügen?

Von all den Erklärungen der verschiedenen Kommentatoren, erscheint mir diejenige des Or HaChajim die treffendste zu sein.

Der Or HaChajim bringt ein Gleichnis, das ich ein wenig ausschmücken möchte. Ein Vater schickte seinen Sohn in ein entferntes Land, um für ihn Dinge zu erwerben, die er zu Hause nicht bekommen konnte. Der Sohn verbrachte dort eine längere Zeit und knüpfte in diesem Zeitraum viele gute Freundschaften. Schliesslich kam der lange erwartete Brief vom Vater, in dem er den Sohn nach Hause zurückrief. Am Tag der Abreise kamen alle Freunde zum Hafen, um Abschied zu nehmen. Alle waren traurig und viele Tränen flossen, aber niemand war verzweifelt. Niemand kam auf den Gedanken, sich aus Trauer zu verstümmeln. Wieso? Weil der Sohn wieder zu seinem Vater zurückkehrte. Die Zeit war reif, dass er wieder in seine wahre Heimat zurückreisen sollte. Die Freunde weinten viel, weil sie ihn nicht mehr sehen würden, aber sie wussten, dass er ja weiterlebte. Tränen wegen dem persönlichen Verlust, weil man eine persönliche Beziehung nicht weiterführen oder nicht weiter aufbauen kann, sind richtig und angebracht, Verzweiflung nicht. Der Gedanke, dass die Freunde sich deshalb Einschnitte zufügen, ist widersinnig. 

"Banim atem laSchem Elokejchem" (Kinder seid ihr von Haschem, eurem G‘tt). Beim "Tod" kehrt der Mensch ganz einfach zu seinem Vater zurück. Der Besuch des Menschen auf dieser vergänglichen Welt kommt zu seinem Ende. Der Zeitpunkt für die Rückreise ist gekommen - es geht nach Hause.

Deshalb: "...lo titgodedu ... leMet" ("macht euch wegen einem Toten keine Einschnitte").

Dieses Konzept kann man anhand einer beeindruckenden Geschichte erläutern, die Rav Jom Tov Ehrlich,  gestützt auf die Schriften von Rabbi

Chajim Vital, dem Hauptschüler des grossen Kabbalisten Ari’sal, erzählte:

Josef, frisch verheiratet, begleitet seinen jüngsten Bruder David von Schul (der Synagoge) nach Hause, um seiner Mutter gut Schabbes zu wünschen. Im Haus war alles für Schabbat bereit, der Tisch gedeckt und die Kerzen leuchteten hell. Der leere Stuhl am oberen Ende des Tisches störte jedoch die Harmonie. Der Vater war vor zwei Jahren gestorben und die Mutter hatte seither keine Ruhe gefunden. Das Lächeln, das sie sich aufzwang, konnte nicht verbergen, wie die Mutter ihre Tränen unterdrückte, als sie ihren Söhnen „Gut Schabbes“ wünschte.

"Mami", sagte Josef sanft, "es ist Schabbat, wir dürfen nicht traurig sein."

"Euer Vater starb vor genau zwei Jahren. Wieso soll ich nicht weinen?" entgegnete sie.

"Das mag wohl diesen Schabbat erklären, aber nicht den vor einer Woche und auch nicht den vor zwei Wochen. Vater ist jetzt im Gan Eden (Garten Eden) und deine Tränen bedrücken ihn. Damit gibst du Haschem auch zu verstehen, dass du Sein Urteil nicht annimmst. Mami, vergib mir, dass ich so spreche", entschuldigte sich Josef.

"Du hast Recht. Jeder will, dass ich wieder glücklich bin - ich versuche mein Bestes", versprach sie.

Josef verabschiedete sich und ging nach Hause, und David machte den Kiddusch über den Wein. Es schien, als ob Ruhe und Zufriedenheit die Se‘uda (das Festmahl) umhüllten. Die Mutter fühlte in sich eine Ruhe, wie sie sie seit dem Tod ihres Ehemannes noch nie gefühlt hatte, als sie sich schlafen legte. Sie dachte sich, dass sie nicht alleine sei. Andere hatten dies auch durchgemacht und überstanden – und dazu war auch sie imstande.

Beim Einschlafen träumte sie, dass Menschen in eine Richtung rannten – und sie begann, mit ihnen mitzulaufen. Sie rannten durch einen dunklen Wald, und dieser endete plötzlich mit einem hellen Lichtstrahl. Die Sonne schien klar auf einen glitzernden Fluss, der sich durch einen Garten mit wunderschönen Blumen schlängelte. Auf einmal erschien ein weissbärtiger Jude, der mit einer weissen Robe bekleidet war, und fragte sie freundlich, ob sie gerne ihren Ehemann sehen wolle. Klopfenden Herzens folgte sie ihm zu einem Baum voll schöner, reifer Früchte, der eine weitläufige Lichtung, die mit einem goldenen Zaun umgeben war, überragte. Juden in farbenfrohen Kleidern sassen in Reihen und lernten Torah von einem jungen Mann.

Die Lektion ging zu Ende und sie sah den Lehrer auf sich zukommen. Als sie erkannte, dass es sich um ihren

Ehemann handelte, fiel sie beinahe in Ohnmacht und

lehnte sich an den Baum. Als sie sich wieder gefangen hatte, schrie sie heraus: "Wieso hast du mich so jung verlassen?"

"Versteh‘ doch bitte, dass die Welt, in der du lebst, eine Welt der Verbannung ist", erklärte er frohgemut. "Man schickt Menschen dorthin, um eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, oder um frühere Verfehlungen wiedergutzumachen. Die wahre Welt ist hier. Ich war ein Torahgelehrter, bevor du mich gekannt hast. Mein einziger Fehler war, dass ich nicht heiraten und Kinder auf die Welt bringen wollte, weil dies meine Studien in Mitleidenschaft gezogen hätte.

"Als ich die Welt verlassen hatte, begann ich in hohe und immer höhere Sphären aufzusteigen. Weil ich jedoch nie geheiratet und Kinder gehabt hatte, konnte ich von einem bestimmten Punkt an nicht mehr weitersteigen. Ich wurde in die tiefere Welt zurückgeschickt, um zu heiraten und Kinder zu haben. Ich heiratete dich, und nach der Geburt unseres siebten Kindes wurde ich in den Garten Eden zurückgerufen. Du hast einen grossen Verdienst, dass du mich zum Manne nahmst. Wenn die Zeit gekommen ist, werden wir in dieser Welt zusammenleben und sie miteinander geniessen."

"Wieso hat unser Josef keinen Erfolg im Geschäftsleben?", fragte sie weiter.

"Du erinnerst dich sicher noch an den Streitfall, den Josef mit einem anderen Juden hatte", antwortete ihr Ehemann. Nach dem Buchstaben des Gesetzes hatte er zwar Recht, doch er hat trotzdem Schuld auf sich geladen, weil er dem anderen grosse Pein verursacht hatte. Ihm drohte eine strenge Strafe, aber ich betete für ihn – und so bekam er nur vier schwierige Jahre. Noch etwas mehr als ein Jahr, und diese Zeit wird vorbei sein – dann wird es ihm wohl ergehen."

"Und was ist mit unserem David? Kein Schidduch (möglicher Ehepartner) lässt sich blicken und mir fehlt das Geld für die Hochzeit."

Er lächelte und antwortete: "Davids Ehefrau ist etwas spät dran – sie ist erst dreizehn Jahre alt. In fünf Jahren werden sie in deine Stadt ziehen, sie wird sich mit David verloben und die ganzen Hochzeitskosten bezahlen."

Mit gequälter Stimme fragte sie: "Und wieso wurde unser dreijähriger Sohn von einem Betrunkenen getötet?"

„Folge mir“, entgegnete ihr Gatte mit einem Lächeln. Sie wanderten zu einem lichtdurchfluteten Garten. Farbenfrohe Lichtstrahlen schienen von oben, und wunderschöne Vögel hüpften von Ast zu Ast und sangen Lob zu G‘tt. Plötzlich sah sie hüpfende Feuerkreise, die sich neben ihr säulengleich aufstellten – gefolgt von kleinen Engeln. Sie spürte, wie ihre Seele wegzugleiten drohte, und ihr Ehemann hielt rasch eine Blume unter ihre Nase, um sie wiederzubeleben. Ein Baldachin aus glitzernden Steinen erschien vor ihr, und unter dem Baldachin stand eine kleine Engelsgestalt, in der sie ihren Sohn wiedererkannte.

"Wieso hast du mich so jung verlassen?" fragte sie.

"Alles geschieht nach G‘ttes Plan", antwortete er. "Ich war schon früher auf der Welt – und damals töteten Nichtjuden, während einer ihrer wilden Angriffe auf unsere Stadt, meine ganze Familie. Nur ich überlebte als sechsmonatiges Kleinkind. Eine hilfsbereite Nichtjüdin nahm mich in ihr Haus und zog mich auf, bis ich von Juden befreit wurde. Sie lehrten mich Torah, bis ich ein grosser Gelehrter geworden war. Als ich jene Welt verliess, wurde ich hier mit grosser Freude aufgenommen. Ich kam jedoch zu einem Punkt, wo ich nicht mehr höher steigen konnte, weil ich von einer Nichtjüdin aufgezogen worden war. Daher wurde beschlossen, dass ich nochmals einer jüdischen Mutter geboren würde und meine frühen Jahre in Reinheit leben solle. Nach drei Jahren gab es keinen Grund mehr, dass ich in dieser niedrigen Welt bleiben sollte –  und deshalb holte man mich zurück. Du hast einen grossen Verdienst, dass du mir geholfen hast, diese höhere Stufe zu erreichen." Das Kind lachte leise und entschwand ihrem Blickfeld.

Ihr Ehemann fuhr fort: "Jetzt kannst Du sehen, dass es für alle deine Fragen eine Antwort gibt. Haschem tut nichts Schlechtes." Er begleitete sie zum Baum, bei dem sie sich getroffen hatten, zurück. "Alles ist hier sehr gut, aber ich kann deine Pein nicht mitansehen. Du würdest mir einen grossen Gefallen tun, wenn du zufrieden sein könntest. Es wurde für dich ein Schidduch vorgeschlagen. Bitte nimm ihn an."

Mit diesen Worten entschwand er, und der alte bärtige Mann führte sie durch den Wald zurück.

Als sie erwachte, war sie ein anderer Mensch. Bald heiratete sie wieder und lebte ein zufriedenes Leben.

"Banim atem laHaschem Elokejchem" – Ihr seid Kinder des Ewigen, eures G’ttes.                      Gut Schabbes!

Quellen und Persönlichkeiten:

  • ARISAL oder HaARI Hakadosch (1534 – 1572), Rabbi Jizchak (ben Schlomo) Luria Aschkenasi, Jerusalem, Kairo und Zefat (Safed). Kabbalist, Haupterklärer der Kabbala, basierend auf den Sohar.
  • Rabbi Chajim Vital (1543 – 1620): Kabbalist und Hauptschüler des Ari’sal; Safed, Israel.
  • Or HaChajim Hakadosch (1696 – 1743): Name des Hauptwerks von Rabbi Chajim ben Mosche ben Atar, Torah-Kommentator; Marokko, Italien, Israel.

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Die Bearbeitung dieses Wochenblatts erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

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