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Elul und Selichot

Perspektiven zu den Selichot-Tagen 5783

Selichot – Ruf des Erwachens

Von Raw A. Pam sZl.

Aus DJZ, Nr. 37, 22. Elul 5766/15. Sept. 2006

Ergänzungen: S. Weinmann

 

Der grösste Teil des besinnlichen Monats Elul ist bereits vorbei. Die besondere Zeit der Selichot fängt an. Noch eine Woche, dann wird jeder Mensch vor dem Schöpfer stehen, Der darüber entscheiden wird, ob der Mensch würdig sein wird, für das kommende Jahr ins Buch des Lebens eingetragen zu werden.

Reb Izele Peterburger, einer der grössten Talmidim (Schüler) von Raw Jisrael Salanter und Autor des klassischen Werkes "Or Jisrael", hatte während der Selichot-Tage einen interessanten Brauch. Er pflegte einer Gerichtsverhandlung beizuwohnen, die in der Stadt abgehalten wurde. Er sagte, er wolle die Angst und Panik derjenigen, über deren Leben verhandelt wurde, miterleben und sehen, wie sie vor den Richtern um Gnade bitten. Wenn er sehe, wie die Leute das menschliche Gericht fürchten, hoffe er, die Tiefe des Himmlischen Gerichts, das am Rosch Haschana stattfindet. besser empfinden zu können.

Ich erinnere mich an meine eigenen Kindheitseindrücke, während den Selichot-Tagen im kleinen litauischen Dorf Salok: Lange vor Sonnenaufgang machte der Schamasch (Synagogen-Diener) von Haus zu Haus seine Runde, klopfte an die Fenster und Läden und rief: "Jidden, kumt zu Seliches!" Es war totenstill, als wir eingehüllt in völlige Dunkelheit nach Schul schritten. Die Nichtjuden schliefen noch und alle Geschäfte waren geschlossen. Es gab nichts, das uns vom Ernst dieser Zeit ablenken konnte. Das schuf eine Atmosphäre der Ehrfurcht und Angst. Im Elul spürten sogar die Kinder die Spannung in der Luft und sogar ihre kindlichen Spiele wiesen einen gewissen Ernst auf.

Wenn man heute in der Grossstadt lebt, ist es sehr schwierig, dieses Gefühl richtig zu empfinden. Unsere Köpfe und Sinne sind durch den Tumult der Welt um uns herum abgestumpft. In der Selichot-Zeit und auch an den Jamim Nora’im müssen wir mit all den täglichen Ablenkungen der nichtjüdischen oder säkularen Gesellschaft fertig werden, in der wir leben. Womit befasst sich in dieser Zeit unser Denken? Für viele Leute geht es vor allem um den Kauf neuer Kleider auf Jomtow und die Besorgung von Synagogenplätzen. Das macht es enorm schwierig, den Ernst dieser Tage richtig zu empfinden.

Es gibt einen weiteren Grund für unsere "Kälte", was diese Zeit anbelangt. Die Mechilta in Beschalach [Schemot 15/11] sagt, dass jene, die von einem menschlichen König "entfernt" sind, ihn mehr fürchten als diejenigen, die ihm "nahe" stehen. Das Gegenteil aber sei bei unserer Beziehung zu Haschem der Fall. Diejenigen, die Ihm "nahe" sind, fürchten Ihn mehr als jene, die von Ihm "entfernt" sind, wie es heisst [Wajikra 10:3]: "Bikrowaj ekadejsch - Durch denen, die mir nahestehen, werde ich geheiligt." Die Mechilta bringt noch weitere Beweise.

Diejenigen, die einem menschlichen König dienen und ihn beraten, haben weniger Respekt vor ihm als seine Untertanen in entfernten Gemeinden. Sie sehen den König immer und beobachten ihn mit all seinen menschlichen Fehlern und Schwächen. Diejenigen, die vom Palast entfernt sind, stehen mit Ehrfurcht vor dem Monarchen. Ihre Vorstellungen basieren auf dem offiziellen Bild, das von den königlichen Ministern und Angestellten sorgfältig geschaffen wird.

Völlig im Gegensatz dazu steht die Art, wie die Menschen Haschem betrachten. Diejenigen, die ihr Leben durch Toralernen und die Erfüllung von Mizwot Seinem Dienst widmen, kommen Ihm "nahe". Je näher sie Ihm kommen, desto mehr fürchten sie Ihn, da ihr Verständnis Seiner Grösse zunimmt. Andere, die die Vorschriften der Tora nicht befolgen, neigen dazu, wenn überhaupt, nur wenig Jir’at Schamajim (G"ttesfurcht) zu besitzen. Ein Mensch kann seine Nähe zu Haschem anhand seiner Furcht vor dem nahenden Tag des Gerichts messen. Unsere "Kälte" in dieser Zeit ist leider ein Barometer unseres Jirat Schamajim-Zustands, der zu wünschen übrig lässt.

Es gibt noch einen dritten Grund für diese "Kälte" in Bezug auf die Selichot. Wir sind nicht in der Lage zu verstehen, was beim Gericht der Jamim Nora’im auf dem Spiel steht. Die meisten Leute fühlen sich im Leben sicher, sind gesund, haben Parnassa (geregeltes Einkommen), Familie, Erfolg und so weiter.

Rabbi Eisel Charif von Slonim bietet in seinem Sefer "Emek Jehoschua" [Drusch 4] ein Konzept an, das diese Selbstgefälligkeit zerschlägt. Er bemerkt, dass die Gemara [Talmud Rosch Haschana 16a] im Namen von Rabbi Jossi sagt, dass der Mensch (im Himmel) tagtäglich gerichtet wird. Das scheint dem Ausspruch der Mischna (ibid.) zu widersprechen, wonach Rosch Haschana der "Tag des Gerichts" ist. Was ist der Unterschied zwischen Rosch Haschana und dem täglichen Gericht?

Rabbi Eisel erklärt, dass jeder Mensch mit besonderen Talenten und guten Dingen gesegnet ist. Das ganze Jahr hindurch besteht in Bezug auf das, was er hat, ein "Status quo". Das tägliche Himmlische Gericht muss darüber entscheiden, ob wegen der guten oder schlechten Taten des Menschen vielleicht eine Anpassung fällig wäre, was seinen Erfolg und seine Errungenschaften beeinflussen könnte.

Am Rosch Haschana findet aber eine ganz andere Art des Gerichts statt. Der Mensch hat keine Chasaka (kein Vorrecht) auf sein Leben und den damit zusammenhängenden Segen, bis Haschem ihm dieses Recht verleiht. Dieser Vertrag für das Leben, mit all dem Guten, das es bringt, ist abgelaufen – alles muss neu "eingeschätzt" werden. Die Tatsache, dass sich jemand im vergangenen Jahr guter Gesundheit erfreute, Parnassa und Nachat von seinen Kindern hatte, garantiert nicht, dass es weiter so gehen wird. Dies verleiht den Worten, die wir in den Selichot sagen, eine neue Bedeutung: "KeDalim ucheRaschim dafaknu Delatecha - Wie Arme und Bettler klopfen wir an Deinen Toren". Dieser Satz wird gewöhnlich damit erklärt, dass wir geistig arm sind und zu wenig gute Taten aufweisen, sodass wir kommen, um G"tt um Gnade zu bitten. Wenn wir es aber so betrachten, wie es Rabbi Eisel Charif tut, kommt uns ein einfacher, aber verpflichtender Gedanke: Am Rosch Haschana ist sogar der reichste Mann buchstäblich arm und steht wie ein Bettler vor Haschem. Keine einzige seiner Millionen sind ihm für das folgende Jahr garantiert, bis Haschem über sein Schicksal entscheidet. Gleicherweise ist einem starken Menschen seine gute Gesundheit nicht garantiert, wie es auch erfolgreiche Eltern in Bezug auf fortlaufenden Nachat nicht sein können.

Jeder Aspekt und jeder Segen im Leben müssen die Prüfung des Himmlischen Gerichts über sich ergehen lassen. Der alte "Vertrag" wurde beendet und muss "erneuert" werden.

Wenn wir über den Ernst der Gerichtstage nachdenken, wird unser G"ttesdienst ganz anders aussehen. Mögen diese Gedanken uns dazu inspirieren, diese einzigartigen Tage vor uns richtig auszunützen und in echter und vollkommener Teschuwa zu Haschem zurückzukehren.

Glossar:

Jamim Nora’im:

(Ehrfurchtserweckende Tage) ist die Bezeichnung für die Hohen Feiertage, also die Feiertage Rosch haSchana und Jom Kippur. Oft werden mit Jamim Nora’im zusätzlich auch die Asseret Jemej Teschuwa (die zehn Tage der Umkehr), d.h. auch die dazwischen liegenden Tage, bezeichnet.  

Teschuwa:

Der hebräische Begriff Teschuwa kommt vom Ausdruck «Schuw-Zurückkehren» und bedeutet die Umkehr zum Ewigen. Es geht um das menschliche Bemühen um Wiedergutmachung der Folgen früherer Taten, Verfehlungen und Sünden.

Die Teschuwa besteht aus fünf Elementen:

  1. Hakarat haChet – Das Erkennen der Sünde
  2. Asiwat HaChet - Das Ablassen der Sünde
  3. Charata - Das Bereuen der Sünde
  4. Widuj - Das Sündenbekenntnis
  5. Kabala leAtid - Der Entschluss, die Sünde nie zu wiederholen

 

Quellen und Persönlichkeiten:

Mechilta ist ein Midrasch zu Sefer Schemot. Als Verfasser wird Rabbi Jischmael ben Elischa angegeben. Die Mechilta zählt zu den Hauptwerken des halachischen Midrasch. In Wirklichkeit aber enthält sie mehr aggadische als halachische Bestandteile. Das Wort Mechilta („Auslegungsnorm“) kommt aus dem Aramäischen und bedeutet so viel wie das hebräische Midda („Mass“, „Norm“).

Rabbi Jehoschua Jizchak Schapira (Eisil Charif) (1801 – 1873) war ein litauisch-weissrussischer Rabbiner. Er war ein Genie, mit 9 Jahren beherrschte er bereits den Talmud. Er war in einige Städte Rabbiner, wie Kalvaria (Litauen), Kutno und Tiktin (Polen) und schlussendlich wurde er bekannt als Rabbiner und Aw Bejt Din (Gerichtsvorsitzender) von Slonim. Er wurde berühmt als Verfasser von vielen scharfsinnigen Werken, wie Noam Jeruschalmi, ein siebenbändiges Werk zum gesamten Talmud Jeruschalmi, Emek Jehoschua Responsen und Draschot zu Schabbat und Feiertagen, etc. Wegen seines scharfen Verstandes und seinem genialen Wissen wurde er Rabbi Eisel (Eisik kommt von Jizchak/Isaak) Charif (der Scharfsinnige) genannt.

Rabbi Jisrael Salanter (1810 – 1883); Gründer der Mussarbewegung (Schulung des Charakters); Rosch Jeschiwa in Wilna und Kovno; Litauen.

Rabbi Jizchak Blaser, auch Reb Izele Peterburger genannt (1837 – 1907); geb. In Wilna. Oberrabbiner von St. Petersburg, Russland (1861-1880) und ein wichtiger Vertreter der Mussar-Bewegung in Litauen. Reb Izele  war ein Schüler von Rabbi Jisrael Salanter, dem Begründer der Mussar-Bewegung. Ab 1880 leitete er das Kollel der Mussar-Bewegung in Kowno.1902 immigrierte er nach Erez Jisrael. Er verfasste einige Werke wie Pri Jizchak, Or Jisrael und Kochewej Or.

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Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich

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