Das Verstehen von Ja’akows Beracha (Segen) für Josef (Rav Frand, Wajechi 5784 - Beitrag 2)

Rav Frand zu Paraschat Wajechi 5784 – Beitrag 2
Ergänzungen: S. Weinmann
Das Verstehen von Ja’akows Beracha (Segen) für Josef
Das Folgende ist eine Betrachtung, die ich im Namen von Rabbi Schmuel Berenbaum sZl., dem Rosch Jeschiwa der Mirer Jeschiwa in Brooklyn, hörte.
In Paraschat Wajechi, als Ja’akow sich auf dem Sterbebett befindet, ruft er seine Söhne zu sich und gibt jedem von ihnen eine Beracha (Segen). Manche dieser Berachot tönen nicht gerade nach einem Segen. Sie sind jedoch alle Berachot! Wie wir schon oft darauf hingewiesen haben, ist die grösste Beracha, die man einem anderen Menschen geben kann, dass man ihn auf seine Stärken und Schwächen aufmerksam macht. Der Mensch sollte wissen, was er mit seinem Leben tun sollte, welche Fähigkeiten er besitzt und in welcher Hinsicht er sich verbessern muss. Dies war in Wirklichkeit, was Ja’akow hier tat.
Sogar für Re’uwen, Schimon und Lewi, denen er ihre Schwächen aufzeigte, ist dies eine Beracha. Er sagte ihnen, dass sie diese und diese Charakterzüge hätten, und dass dies etwas sei, an dem sie in der Zukunft arbeiten müssten. Chasal (unsere Weisen) sagen, dass Schimon und Lewi Eiferer waren und dass Ja’akow Awinu sie darauf hinwies. Lewi zumindest bewies die Fähigkeit, seine Eigenschaft eines Eiferers zu vervollkommnen. Dies ist der Grund, warum der Stamm Lewi zur Zeit der Awejra (Sünde) des Ejgel Hasahaw (Goldenen Kalbes) sich für das Richtige einsetzte. Dies ist der Grund, warum Mosche Rabbejnu den Stamm Lewi loben und über diesen Stamm sagen konnte: "Er sprach von Vater und Mutter: 'Ich hab’ sie nie gesehen!' Er kannte seine Brüder nicht, und achtete nicht seiner Söhne. Er hütete nur dein Gebot, bewahrte deinen Bund (bei der Bestrafung der Sünder, begünstigte er nicht seine Verwandte)!" (Dewarim 33:9)
Es gibt einen gemeinsamen Nenner für all diese Berachot (obwohl einige fast wie Kelalot (Verwünschungen) tönen), der auf die natürlichen Stärken und Fähigkeiten jedes einzelnen Stammes hinweist und empfiehlt, was sie mit ihrem Leben tun sollten. Dies ist die grösste Beracha, die ein Mensch jemand anderem geben kann.
In Jehuda sah Ja’akow das Königtum (Malchut). In Jissachar sah er das Tora-Studium. In Dan sah er dessen Fähigkeit zu urteilen. All dies ist schön und gut, bis wir zum Schewet (Stamm) Josef kommen. Beim Stamm Josef sieht es auf den ersten Blick nicht aus, dass Ja’akow irgendeine Stärke Josefs erwähnt. "Josef ist ein bezauberndes Kind … Die Töchter Ägyptens stiegen auf die Mauern von Ägypten…, sagt Raschi, um seine Schönheit zu bewundern" (Bereischit 49:22, siehe Raschi dort). Es scheint, dass Ja’akow hier sagt, dass Josef grossartig ist. Er ist ein beeindruckender Mensch, und seine Schönheit wird bewundert!
So sprechen wir über ein jüdisches Kind? Haben Sie je gehört, dass man einen Chatan so lobt? Man könnte sagen, dass er klug, sympathisch und ein Gelehrter sei, aber würden wir einen Chatan loben, indem wir sagen, dass er umwerfend schön ist? Niemand spricht auf solche Weise. Dies ist keine jüdische Ausdrucksweise. Wo ist die Beschreibung von Josefs Charakterzügen? Wo werden die Eigenschaften seiner Seele erwähnt?
Ja’akows Beracha für Josef fährt so fort: "Sie verbitterten ihn und wurden seine Widersacher, die Herren der Pfeile hassten ihn" (Bereschit 49:23). Raschi erklärt: Er wurde von seinen Brüdern gehasst, die glattzüngig waren wie Pfeile. Was ist das Lob von Josef? Er ist hinreissend. Er ist attraktiv. Alle Töchter Ägyptens schwärmen für ihn. Und wisst ihr was noch? Seine Brüder hassten ihn.
Wo werden seine Stärken erwähnt? Wo sehen wir seine Techunot Hanefesch (Charakter- Eigenschaften)?
Raw Schmuel Berenbaum sagte etwas sehr Interessantes, das sehr relevant und aktuell ist. Menschen fühlen sich angezogen von Menschen, die sie lieben, bewundern und als wichtig betrachten. Menschen neigen dazu, sich von Menschen zu entfernen, die sie nicht nett behandeln, nicht gut zu ihnen sind und sie nicht schätzen. In welchem Zusammenhang sagte Raw Berenbaum dies? Wir sind uns schmerzhaft einer Plage bewusst, die unsere Gemeinschaft in den letzten Jahrzehnten getroffen hat – das Phänomen der abfallenden Jugend, der Kinder, die vom Weg abgekommen sind, Kinder, die in scheinbar wunderbaren Häusern aufgewachsen sind, jedoch aus irgendwelchen Gründen alles hinwerfen. Sie verlassen den toratreuen Lebensstil und treiben sich mit den misslichsten Menschen auf den Strassen herum.
Dies ist eine sehr komplizierte Situation, die zahlreiche Ursachen haben kann. Raw Schmuel Berenbaum sagte jedoch, dass manchmal (aus irgendwelchen Gründen) die Ursache für diese Situation ist, dass das Kind sich von seiner Familie, seinen Kameraden und der frommen Gesellschaft nicht geliebt fühlt. Andererseits fühlt es, dass die Kinder auf der Strasse ihn lieben. Sie sind nett zu ihm. Sie behandeln ihn mit Respekt. Wo soll er also hingehen? In meiner Schule behandeln sie mich manchmal wie Abfall. Meine Eltern kritisieren mich die ganze Zeit. Niemand liebt mich. 'Sie' (die Freunde auf der Strasse) lieben mich. Wo geht er also hin? Es ist menschliche Natur, dass Menschen von anderen angezogen werden, die sie lieben und schätzen.
Jetzt verstehen wir die Beracha von Josef, und wir verstehen auch seine Kochot (Stärken): Seine Brüder hassten ihn. Die Brüder verkörperten die fromme Gesellschaft. Sie verleumdeten ihn. Sie verkauften ihn. Er kam in die ägyptische Gesellschaft, und das weibliche Geschlecht schwärmte für ihn. "Jeder liebt mich hier." Was könnten wir von einem solch ‘unwichtigen’ Menschen erwarten? "Ich werde diese Jiddischkeit über Bord werfen. Wer hat dies nötig? Meine Brüder behandeln mich wie Schmutz, und diese ägyptischen Mädchen verherrlichen mich!"
Was tat Josef? Er blieb ein treuer Jude. Er hielt sich standhaft an seine Religion, trotz der Tatsache, dass die Mädchen für ihn schwärmten und seine Brüder ihn hassten. Dies sind Kochot Hanefesch (Charakterstärken) und Verpflichtung. Dies ist dieselbe Charakterstärke, die es ihm ermöglichte, den unheimlichen Verführungen der Frau Potiphars zu widerstehen. Dies ist, was Ja’akow Awinu uns in seiner Beracha sagte. Er beschrieb die Stärke seines Sohnes Josef. Trotz der Tatsache, dass die Mädchen auf die Mauern kletterten, um ihn zu sehen, trotz der Tatsache, dass er von ihnen geliebt und die Frau Potiphars ihn dauernd verführen wollte, und trotz der Tatsache, dass er von seinen Brüdern gehasst wurde, blieb er ein ehrlicher und treuer Jude!
Quellen und Persönlichkeiten:
Raschi, Akronym für Rabbi Schlomo ben Jizchak (1040-1105); Troyes (Frankreich) und Worms (Deutschland); „Vater aller TENACH- und Talmudkommentare“.
Rabbi Shmuel Berenbaum (1920 – 2008) war ein orthodoxer Rabbiner und Rosch Jeschiwa der Mirer Jeshiwa in Brooklyn, New York. Er wurde in Knyszyn, Polen, geboren und studierte an der Ohel-Tora-Jeschiwa in Baranowicz, unter der Leitung von Rabbi Elchanan Wasserman. Er studierte später in der Mirer Jeschiwa in der Stadt Mir (heute Weissrussland).
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs reiste er mit dem Rest der Mirer Jeschiwa nach Wilna, wo sie drei Wochen lang auf ein Ziel-Visum für Curacao, ein niederländisches Protektorat in der Karibik warteten. Nachdem sie dies erhalten hatten, erhielten sie ein Reisevisa vom japanischen Konsul in Kovno, Chiune Sugihara. Die Jeschiwa reiste mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Wladiwostok, eine Reise, die mehr als zwei Monate dauerte. Von dort aus reisten sie nach Kobe, Japan, wo sie 7 Monate blieben, bevor sie von der japanischen Regierung in Shanghai, China, etabliert wurden.
Nach dem Krieg reiste Berenbaum mit den Überresten der Mirer Jeschiwa in die Vereinigten Staaten und liess sich in Brooklyn, New York, nieder. Er heiratete die Tochter des Mirer Rosch Jeschiwa, Rabbi Avraham Kalmanowitz. Im Jahr 1964, nach dem Tod seines Schwiegervaters, wurde er zusammen mit seinem Schwager Rabbi Schraga Mosche Kalmanowitz die Raschej Jeschiwa der Mirer Jeschiwa. Sein Fleiss in seinem Tora-Studium war legendär, er war dafür bekannt, den ganzen Tag im Jeschiwa-Studienhaus zu verbringen, um mit den Studenten zu lernen und zu diskutieren.
Die Bearbeitung dieses Beitrages erfolgte durch Mitarbeiter des Jüfo-Zentrums in Zürich
___________________________________________________________________________
Copyright © 2023 by Verein Lema'an Achai / Jüfo-Zentrum.
Zusätzliche Artikel und Online-Schiurim finden Sie auf: www.juefo.com und www.juefo.ch
Weiterverteilung ist erlaubt, aber bitte verweisen Sie korrekt auf die Urheber und das Copyright von Autor und Verein Lema'an Achai / Jüfo-Zentrum.
Das Jüdische Informationszentrum („Jüfo“) in Zürich erreichen Sie per E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! für Fragen zu diesen Artikeln und zu Ihrem Judentum.
What do you think?
Send us feedback!
- https://www.juefo.com/
- /parascha/23-wajechi/1962-vergesst-nie-dankbar-zu-sein-rav-frand-wajechi-5784-beitrag-1.html