Worauf die Halacha beruht und was uns die Vorschriften heute noch sagen
Halacha ist ein Begriff, den jeder Jude kennt. Zumeist versteht man ihn als Gesetz. Im demokratischen System bestimmen die Volksvertreter im Parlament über die Gesetze. Nur wer entscheidet eigentlich im Judentum darüber, was erlaubt und verboten ist? Und nach welchen Maßstäben werden die Gesetze festgelegt?
Durch die weltlichen Gesetze werden die Bürger gegenüber dem Staat, in dem sie leben, verpflichtet. Die Halacha hingegen ist ein Gesetzessystem des Volkes, das in Eretz Israel gelebt hatte, aber bis heute zum großen Teil in den unterschiedlichen Exilen zerstreut ist. Woher kommt dann die Verpflichtung jedes Juden – egal ob er in Deutschland, Amerika oder Israel lebt – der gleichen Halacha gegenüber?
Details
Tatsächlich hatte Mosche Rabeinu mehr als nur die fünf Bücher Moses in Sinai erhalten. Es ist bekannt, dass man in den fünf Teilen der Tora alle 613 Gebote findet. Doch auch bei näherem Lesen der Tora können wir feststellen, dass viele Dinge, wie zum Beispiel das Verbot, am Schabbat Handel zu treiben oder nach dem Fleischverzehr bis zum Verzehr einer milchigen Mahlzeit sechs Stunden zu warten, nicht eindeutig in der Tora stehen. Tatsächlich steht in der Tora, dass man am Schabbat ruhen muss und nicht arbeiten darf. So steht auch, dass zwischen Fleisch und Milch getrennt werden muss, aber ohne entsprechende Details dazu.
Woher kommen dann diese Details? Jeder, der Tora lernt, kennt zwei wichtige Begriffe: schriftliche und mündliche Tora. Die schriftliche Tora sind die fünf Teile der Tora. Die mündliche Tora ist eigentlich die Erklärung für alles, was in der schriftlichen Tora steht. In der Tora sind Regeln enthalten. Diese Regeln brauchen Erklärungen und diese befinden sich in der mündlichen Tora. Mosche hatte diese Tora am Berg Sinai erhalten und sie das Volk gelehrt. In beinahe 1.400 Jahren wurde die Tradition des mündlichen Lernens in den unterschiedlichen Generationen beibehalten.
Zu Zeiten des Rabbi Jehuda Hanasi (ca. 135–220), einem der großen Tanaim nach der Zerstörung des Tempels, verstand Rabbi Jehuda, dass es im Exil für das Volk schwer ist, die Tora zu lernen und sie zu verinnerlichen. Deshalb entschied er, dass es notwendig sei, die Tora schriftlich festzuhalten. Er fasste die mündliche Tora in 60 Traktaten der Mischna zusammen, eine Arbeit, die durch das Verfassen des babylonischen Talmuds fortgesetzt wurde und später durch das wichtigste Buch der Halacha, den Schulchan Aruch von Rabbi Joseph Karo (16. Jahrhundert) fortgesetzt wurde.
Die Mischna, der Talmud und der Schulchan Aruch sind nur Teil der Tradition. Sie wird in den Jeschiwot von Rabbinern gelehrt, um die Halacha, nämlich die Gesetze des Lebens zu verstehen. Nur derjenige, der durch Rabbiner ermächtigt wurde, darf nach vielen Jahren des Lernens nach der Halacha urteilen. Trotz dieser eindeutigen Regeln wurde im Laufe der Generationen versucht, durch viele Gruppierungen die Autorität der Rabbiner infrage zu stellen und gegen die mündliche Tora zu argumentieren. Das bekannteste Beispiel dazu sind die Sadduzäer, die Boethusianer und später die Karäer.
Interpretation
Die Tradition der mündlichen Tora bedeutet, dass wir die Tora, die uns von Mosche gegeben wurde, interpretieren dürfen. Jedes Abweichen von dieser erlaubten Interpretation gilt als Veränderung der Tora in ihrer originären Form.
Wie hätten wir ohne die mündliche Tora gewusst, dass wir Tefillin legen sollen? In der Tora steht: »Und Du sollst sie binden zum Wahrzeichen an Deine Hand, und sie sollen sein zum Denkbande zwischen Deinen Augen« (5. Buch Moses 6,8). Was sollen wir genau binden und wie sollen wir es tun? Nur mithilfe der Tradition, die Mosche gegeben wurde, wissen wir heute, wie wir dieses Gebot ausführen sollen.
Halacha gilt zwar als Gesetz, aber nicht zufällig wird das Wort »Halacha« dafür verwendet. Halacha kommt von Halicha (gehen). Es ist der Weg, auf dem wir gehen sollen.
Die Halacha zeigt jedem Juden auf der Welt seinen Weg im Leben. Darüber steht bereits in der Tora: »Wenn Dir eine Sache unbekannt ist für den Rechtsspruch ... begib dich zu den Priestern, den Lewijim oder zu dem Richter, der in selbigen Tagen sein wird, und frage nach, dass sie dir künden den Ausspruch des Rechts« (5. Buch Moses, 17, 8-9).
Veränderungen
Eine weitere Frage ist noch zu klären: Ist die Tora zeitgemäß? Tausende Jahre sind seit der Übergabe der Tora vergangen, die Welt hat sich seitdem verändert, denken wir nur an die industrielle und technologische Revolution.
Staatsgesetze werden von Menschen verfasst. Der Mensch besitzt nur eine Kurzsicht auf unsere Realität. Im Gegenteil dazu wurde die Tora von G’tt übergeben. G’tt ist nicht von einer bestimmten Zeit abhängig und kann deshalb die Vergangenheit genauso wie die Zukunft verstehen. Er kennt die Regeln der Schöpfung und die Folgen aller Regeln, die er in unseren Hände durch die Gebote gegeben hat. Das Ziel der Tora und der Gebote ist es, jedem Menschen ein passendes Regelwerk zu geben, um ein vollkommenes moralisches Verhalten in der Welt zu ermöglichen. Durch das Lernen der Tora können wir die moralische Tiefe hinter jedem Gebot und Verbot entdecken. Unsere Aufgabe besteht nicht darin, die Tora an die technologische Entwicklung anzupassen, sondern darin zu prüfen, ob diese Technologien entsprechend der Tora umgesetzt werden können, ohne die Moral der Welt dabei zu verletzen.
Die Tora ist aktuell. Selbst wenn es Bewegungen gibt, die sagen, dass nicht die Details ausschlaggebend sein sollen, werden wir immer auf der Seite der Tora sein. Nur durch das Lernen der mündlichen Lehre wird die Eigenartigkeit der Tora als G’ttes Geschenk bewahrt. Ein Geschenk, das es uns ermöglicht, unser Leben an die höhere Moral anzupassen. Wie es der Rambam in seinen Glaubensprinzipien formuliert hat: Ich glaube mit voller Überzeugung, dass diese Tora, wie wir sie jetzt besitzen, die gleiche ist, die Mosche übergeben wurde. Ich glaube mit voller Überzeugung, dass diese Tora unverwechselbar ist und dass es nie eine andere Lehre vom Schöpfer her, gepriesen sei sein Name, geben wird.
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