Raw Ciner zu Parschat Re'eh 5770

Einblick in G“ttes Wege

Die Parscha dieser Woche, Re‘eh, zeigt uns auf klare Weise die Einstellung, die wir aus Sicht der Tora gegenüber dem Tod haben sollten. "Banim atem laHaschem Elokechem, lo titgodedu .... leMet" ("Kinder seid ihr von Haschem, eurem G‘tt, macht euch wegen einem Toten keine Einschnitte") [14:1]. Bei den Völkern war es Sitte, sich Hautabschürfungen und Einschnitte zu machen, um der Trauer und den Gefühlen einem lieben Dahingeschiedenen gegenüber Ausdruck zu verleihen. Uns ist verboten, auf diese Weise zu handeln. Warum? Weil wir Kinder G‘ttes sind.

Was ist der Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass wir Kinder G‘ttes sind und dem Verbot, sich wegen dem Tod eines lieben Menschen Einschnitte zu machen?

Von all den Erklärungen der verschiedenen Kommentatoren dünkt mich diejenige des Or HaChajim und des Chiskuni die treffendste.

Der Or Hachajim erwähnt die Lehre der Tora, dass der Tod ein Verlust für die Überlebenden ist - nicht jedoch für den Verstorbenen. Man kann dies mit jemandem vergleichen, der seinen Sohn in ein fernes Land schickte, um dort ein Geschäft zu eröffnen. Der Sohn liess sich dort nieder und baute mit der Zeit freundschaftliche Beziehungen zu zahlreichen netten Leuten auf. Nach vielen Jahren befahl der Vater dem Sohn heimzukehren und der Sohn kam seinem Wunsche nach.

Der Sohn ist für seine Bekannte nicht verloren. Diejenigen, die ihn kennen und lieben gelernt hatten, haben nun nicht mehr die Möglichkeit, ihn zu sehen und an ihrer Beziehung weiterzubauen - aber der Sohn ist nicht verloren. Im Gegenteil: Der Sohn kehrt zu seinem Vater zurück. Der Gedanke, dass diese Freunde sich darum Einschnitte zufügen, ist widersinnig. Traurigkeit und eine melancholische Stimmung wegen der Trennung sind verständlich. Sich Einschnitte zuzufügen ist jedoch vollständig fehl am Platz!

"Banim atem laHaschem Elokejchem" (Kinder seid ihr von Haschem, eurem G‘tt). Beim "Tod" kehrt der Mensch ganz einfach zu seinem Vater zurück. Der Besuch des Menschen auf dieser vergänglichen Welt kommt zu seinem Ende. Der Zeitpunkt für die Rückreise ist gekommen - es geht nach Hause. Deshalb: "Lo titgodedu...leMet".

Dieses Konzept kann man anhand einer beeindruckenden Geschichte erläutern, die Rav Jom Tov Ehrlich - gestützt auf die Schriften von Rav Chajim Vital, dem Hauptschüler des grossen Kabbalisten Ari’sal, erzählte:

Josef, frisch verheiratet, begleitet seinen jüngsten Bruder David von Schul (der Synagoge) nach Hause, um seiner Mutter „Gut Schabbes“ zu wünschen. Im Haus war alles für Schabbat bereit, der Tisch gedeckt und die Kerzen leuchteten hell. Der leere Stuhl am oberen Ende des Tisches störte jedoch die Harmonie. Der Vater war vor zwei Jahren gestorben und die Mutter hatte seither keine Ruhe gefunden. Das Lächeln, das sie sich aufzwang, konnte nicht verbergen, wie die Mutter ihre Tränen niederkämpfte, als sie ihren Söhnen „Gut Schabbes“ wünschte.

"Mami", sagte Josef sanft, "es ist Schabbat, wir dürfen nicht traurig sein."

"Euer Vater starb vor genau zwei Jahren. Wieso soll ich nicht weinen?" entgegnete sie. "Das mag wohl diesen Schabbat erklären, aber nicht den vor einer Woche und auch nicht den vor zwei Wochen. Vater ist jetzt im Gan Eden (Garten Eden) und deine Tränen bedrücken ihn. Damit gibst du Haschem auch zu verstehen, dass du Sein Urteil nicht annimmst. Mami, vergib mir, dass ich so spreche", entschuldigte sich Josef.

"Du hast recht, jeder will, dass ich wieder glücklich bin - ich versuche mein Bestes", versprach sie.

Josef verabschiedete sich und ging nach Hause und David machte den Kiddusch über den Wein. Es schien, als ob Ruhe und Zufriedenheit die Se‘uda (das Festmahl) umhüllten. Die Mutter fühlte in sich eine Ruhe, wie sie seit dem Tod ihres Ehemannes noch nie gefühlt hatte, als sie sich zum Schlafen legte. Sie dachte sich, dass sie nicht alleine sei. Andere hatten dies auch durchgemacht und überstanden und dazu war auch sie imstande.

Beim Einschlafen träumte sie, dass Menschen in eine Richtung rannten und sie begann mit ihnen mitzulaufen. Sie rannten durch einen dunklen Wald und dieser endete plötzlich mit einem hellen Lichtstrahl. Die Sonne schien klar auf einen glitzernden Fluss, der sich durch einen Garten mit wunderschönen Blumen schlängelte. Auf einmal erschien ein weissbärtiger Jude, der mit einer weissen Robe bekleidet war und fragte sie freundlich, ob sie gerne ihren Ehemann sehen wolle. Klopfenden Herzens folgte sie ihm zu einem Baum voll schöner, reifer Früchte, der eine weitläufige Lichtung, die mit einem goldenen Zaun umgeben war, überschaute. Juden in farbenfrohen Kleidern sassen in Reihen und lernten Tora von einem jungen Mann.

Die Lektion ging zu Ende und sie sah den Lehrer auf sich zukommen. Als sie erkannte, dass es sich um ihren Ehemann handelte, fiel sie beinahe in Ohnmacht und lehnte sich an den Baum. Als sie sich wieder gefangen hatte, schrie sie heraus: "Wieso hast du mich so jung verlassen?"

"Versteh‘ doch bitte, dass die Welt, in der du lebst, eine Welt der Verbannung ist", erklärte er frohgemut. "Man schickt Menschen dorthin, um eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen oder um frühere Verfehlungen wieder gut zu machen. Die wahre Welt ist hier. Ich war ein Tora-Gelehrter, in meinem ersten Leben auf der irdischen Welt, noch lange bevor du mich gekannt hattest. Mein einziger Fehler war, dass ich nicht heiraten und Kinder auf die Welt bringen wollte, weil dies meine Studien in Mitleidenschaft gezogen hätte.

"Als ich die Welt verliess, begann ich in hohe und immer höhere Sphären aufzusteigen. Weil ich jedoch nie geheiratet und Kinder gehabt hatte, konnte ich von einem bestimmten Punkt an nicht mehr weitersteigen. Ich wurde auf die irdische Welt zurückgeschickt, um zu heiraten und Kinder zu haben. Ich heiratete dich und nach der Geburt unseres siebten Kindes wurde ich in den Garten Eden zurückgerufen. Du hast einen grossen Verdienst, dass du mich zum Manne nahmst, denn so konnte ich meinen Fehler korrigieren. Wenn die Zeit gekommen ist, werden wir in dieser Welt zusammenleben und sie miteinander geniessen."

"Wieso hat unser Josef keinen Erfolg im Geschäftsleben?" fragte sie weiter.

"Du erinnerst dich sicher noch an den Streitfall, den Josef mit einem anderen Juden hatte", antwortete ihr Ehemann. Nach dem Buchstaben des Gesetzes hatte er zwar recht, hat aber trotzdem Schuld auf sich geladen, weil er dem anderen grosse Pein verursacht hatte. Ihm drohte eine strenge Strafe vom Himmel, aber ich betete für ihn und so bekam er nur vier schwierige Jahre. Noch etwas mehr als ein Jahr und diese Zeit wird vorbei sein, dann wird es ihm wohl ergehen."

"Und was ist mit unserem David? Kein Schidduch (möglicher Ehepartner) lässt sich blicken und mir fehlt das Geld für die Hochzeit."

Er lächelte und antwortete: "Davids Ehefrau ist etwas spät dran - sie ist erst dreizehn Jahre alt. In fünf Jahren wird ihre Familie in deine Stadt ziehen, sie wird sich mit David verloben und ihre Eltern werden die ganzen Hochzeitskosten bezahlen."

Mit gequälter Stimme fragte sie: "Und wieso wurde unser dreijähriger Sohn von einem Betrunkenen getötet?"

„Folge mir“, entgegnete ihr Gatte mit einem Lächeln. Sie wanderten zu einem lichtdurchfluteten Garten. Farbenfrohe Lichtstrahlen schienen von oben und wunderschöne Vögel hüpften von Ast zu Ast und sangen das Lob von G‘tt. Plötzlich sah sie hüpfende Feuerkreise, die sich neben ihr säulengleich aufstellten, gefolgt von kleinen Engeln. Sie spürte, wie ihre Seele wegzugleiten drohte und ihr Ehemann hielt rasch eine Blume unter ihre Nase, um sie wiederzubeleben. Ein Baldachin aus glitzernden Steinen erschien vor ihr und unter dem Baldachin stand eine kleine Engelsgestalt, in der sie ihren Sohn wieder erkannte.

"Wieso hast du mich so jung verlassen?" fragte sie.

"Alles geschieht gemäss G‘ttes Plan", antwortete er. "ich war schon früher auf der Welt und dazumal töteten Nichtjuden, während einer ihrer wilden Angriffe gegen unsere Stadt, meine ganze Familie. Nur ich überlebte als sechsmonatiges Kleinkind. Eine hilfsbereite Nichtjüdin nahm mich in ihr Haus und zog mich auf, bis ich von Juden übernommen wurde. Sie lehrten mich Tora bis ich ein grosser Gelehrter wurde. Als ich die irdische Welt verliess, wurde ich hier mit grosser Freude aufgenommen. Ich kam jedoch zu einem Punkt, wo ich nicht mehr höher steigen konnte, weil ich von einer Nichtjüdin aufgezogen worden war. Es wurde beschlossen, dass ich nochmals einer jüdischen Mutter geboren werden solle und so meine jungen Jahre in Reinheit leben werde. Nach drei Jahren gab es keinen Grund mehr, dass ich in dieser niedrigen Welt bleiben sollte und deshalb holte man mich zurück. Du hast einen grossen Verdienst, dass du mir geholfen hast, diese höhere Stufe zu erreichen." Das Kind lachte leise und entschwand ihrem Blickfeld.

Ihr Ehemann fuhr fort: "Du kannst jetzt sehen, dass es für alle deine Fragen eine Antwort gibt. Haschem tut nichts Schlechtes." Er begleitete sie zum Baum, bei dem sie sich getroffen hatten, zurück. "Alles ist hier sehr gut, aber ich kann deine Pein nicht mit ansehen. Du würdest mir einen grossen Gefallen machen, wenn du zufrieden sein könntest. Es wurde für dich ein Schidduch (Ehepartner) vorgeschlagen. Bitte nimm ihn an."

Mit diesen Worten entschwand er und der alte bärtige Mann führte sie durch den Wald zurück.

Als sie erwachte, war sie ein anderer Mensch. Bald verheiratete sie sich wieder und lebte ein zufriedenes Leben.

"Banim atem laHaschem Elokejchem" - wir sind seine Kinder.


Quellen und Persönlichkeiten:
Or HaChajim (1696 – 1743): Name des Hauptwerks von Rabbi Chajim ben Mosche ben Atar, Torakommentator; Marokko, Italien, Israel.
Chiskuni (Mitte 13. Jahrhundert): Rabbi Chiskijahu ben Manoach, Torakommentator; Frankreich.
Rav Chajim Vital (1543 – 1620): Kabbalist und Hauptschüler des Ari’sal; Safed, Israel.
Ari’sal (1534 – 1572): Kabbalist; Ägypten; Safed, Israel.



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