Raw Frand zu Parschat Emor 5771

Der Kohen Gadol im Allerheiligsten: Hohes Potenzial gegen hohes Risiko

In der Parscha dieser Woche lernen wir, dass der Kohen Gadol (Hohepriester) keine Witwe heiraten darf. Für einen gewöhnlichen Kohen (Priester) ist nur die Heirat mit einer geschiedenen Frau verboten; der Kohen Gadol jedoch darf sich nur eine Frau nehmen, die noch nie verheiratet war.

Der Moschaw Sekejnim al haTora (eine Bibelerklärung aus der Feder der Autoren des Tossafot-Kommentars zum Talmud) gibt für dieses Gesetz folgende Erklärung: Wenn der Kohen Gadol eine Witwe heiraten dürfte, müssten wir folgendes Szenario befürchten: Es wäre möglich, dass der Kohen Gadol sein Auge auf eine bereits verheiratete Frau geworfen hätte; eine, die er gerne geheiratet hätte. Wenn er am Jom Kippur ins Allerheiligste (Kodesch haKodoschim) trat, sprach er den ausdrücklichen Namen G'ttes (Schem haMeforasch) aus. Dieser besitzt übernatürliche Kräfte und kann sogar Menschen töten (vergl. Raschi zu Schemot 2:14). Wenn der Hohepriester in diesem Moment den Gatten der Frau, die er heiraten möchte, im Sinn hat, kann er ihn mit diesem Ausspruch umbringen. Um diese lebensgefährliche Situation zu vermeiden, erlaubt die Tora dem Kohen Gadol, nur eine Jungfrau, nicht aber eine Witwe zu heiraten.

Dieser Grund ist wirklich sehr erstaunlich. Jom Kippur ist der heiligste Tag des Jahres. Das Kodesch haKodoschim ist der heiligste Platz der Welt. Der Kohen Gadol ist dabei, mit seiner Zunge die heiligsten aller Silben zu äussern. Und wovor haben wir Angst? Wir befürchten, er könnte denken: "Ich hoffe, dass Person x tot umfällt, damit ich seine Frau heiraten kann!"

Was die Sache noch erstaunlicher erscheinen lässt, ist, dass diese Erläuterung im Moschaw Sekejnim al haTora im Namen von "HaChassid" - dem Frommen - erwähnt wird (Rav Bergman meint, damit könnte allenfalls der Rokeach gemeint sein). Diese Erläuterung stammt also von jemandem, der für seine Frömmigkeit und Heiligkeit bekannt war!

Rav Bergman schreibt, dass wir aus diesem Tossafot lernen, dass Menschen bodenlos tief sinken können. Sogar ein solcher Mensch, offensichtlich die heiligste Persönlichkeit der Jüdischen Nation, kann - am heiligsten Tag des Jahres, auf dem heiligsten Platz der Welt - derart schlechte und niedrige Gedanken haben. So ist der Mensch.

Diese Botschaft über die Verderbtheit des Menschen ist ausserordentlich bedrückend. Sie muss jedoch einer anderen Lehre von Chasal (unseren Weisen) gegenübergestellt werden.

In Parschat Acharej Mot stellt der Midrasch eine Frage über den Passuk (Vers), der das Eintreten des Kohen Gadol ins Allerheiligste beschreibt. Der Passuk sagt: "Und kein Mensch soll sich im Stiftzelt aufhalten… [Wajikra 16:17]." Darauf fragt der Midrasch: "Ist denn der Kohen Gadol nicht selbst ein Mensch?" Als Erklärung darauf zitiert der Midrasch die Meinung von Rabbi Awahu im Namen von Rabbi Pinchas, die besagt, dass der Kohen Gadol, im Augenblick, in dem er in das Stiftzelt trat, gleich einem Engel des Himmels war.

Falls der Kohen Gadol alles richtig macht, steigt er über die Stufe des Menschen hinauf auf die eines himmlischen Geschöpfes.

Der erste Midrasch sagt, dass der Kohen Gadol beim Eintreten in das Allerheiligste die allerschlimmsten Gedanken haben kann. Gemäss dem zweiten Midrasch bezeugt die Tora, dass der Kohen Gadol beim Eintritt in das Allerheiligste alle menschlichen Beschränkungen abstreifen kann. Wie lassen sich diese beiden Midraschim miteinander in Einklang bringen?

Die Antwort, so meint Rav Bergman, ist die Kraft der Tora und der Mizwot (Gebote). Als Menschen sind wir zu allem fähig. Menschen können unsäglich tief sinken. Denken Sie nie: "Aber wir reden doch über zivilisierte Personen." Man muss nur über den Holocaust lesen, um zu verstehen, dass dieses Argument nicht sticht. Menschen ohne Tora und ohne Mizwot und ohne Keduscha (Heiligkeit) sind - selbst im Allerheiligsten, selbst an Jom Kippur - imstande, die schlimmsten Gedanken zu hegen. Mit Tora und Mizwot hingegen, kann sich ein Mensch erheben und über das Menschliche hinauswachsen. Ganz speziell der Kohen Gadol sollte diese geistigen Höhen erreichen; jedoch wenn er sich nicht permanent Tora und Mizwot widmet, kann auch er schlechte und niedrige Gedanken haben.

Dieser Gedanke ist sehr, sehr ernüchternd.

Mit diesem Gedanken bringt Rav Bergman eine sehr schöne Erklärung zu einer Talmudstelle. Der Talmud erzählt [Traktat Schabbat 88b], dass die Engel versuchten, G'tt davon abzuhalten, Mosche auf dem Berg Sinai die Tora zu geben. Sie argumentierten, dass dieses Geschenk für die Menschen ungeeignet sei. G'tt befahl Mosche, den Engeln zu antworten. Mosche entgegnete ihnen darauf, unter anderem, dass die Tora nur für Menschen geschrieben sei und nicht für Engel, da die Tora sagt: "Ich bin der Ewige, der dich aus Ägypten geführt ..." - und die Engel waren nie in Ägypten.

Was dachten sich die Engel eigentlich? Sie kannten das erste der Zehn Gebote (in dem dieser Ausspruch vorkommt) sehr wohl. Sie wussten auch, dass sie nie in Ägypten waren.

Rav Bergman erklärt, dass es hier nicht um die geschichtliche Tatsache ging, dass die Juden aus Ägypten geführt worden waren und die Engel nicht. Es ging darum, dass die Juden die Tora benötigten, weil sie in Ägypten waren und dort auf die 49. Stufe der Tum’ah (Unreinheit) gesunken waren. Sie brauchten die Tora, um sich über diese Verdorbenheit zu erheben. Sie brauchten die Tora um richtig zu leben und sich richtig zu benehmen. Die Engel waren nie in Ägypten und waren nie dem geistigen Niedergang ausgesetzt. Sie brauchten die Tora nicht. Sie wurden auf einer bestimmten geistigen Stufe geschaffen und diese behalten sie während ihrer gesamten Existenz.

Mosche stützte sich deshalb auf das folgende Argument: Wir, die sogar auf dem heiligsten Platz die unheiligsten Gedanken haben können, benötigen die Tora! Die Engel mussten zugestehen, dass Mosche recht hatte. Die Menschen benötigen die Tora, damit sie die Möglichkeit erhalten, die Stufe von Engeln zu erreichen.


Quellen und Persönlichkeiten:
Ba’alej Tossafot („Tossafisten“): Talmuderklärer des 12. und 13. Jahrhunderts.
Rokeach: Rabbi Elasar ben Jehuda von Worms (1165 –1230); Verfasser des Werks Sefer Ha-Rokeach.



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