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AUS:   weltonlinelogo
VON DAN BILEFSKY, 1. März 2010


Pawel war ein polnischer Skinhead. Bis er und seine Frau ihre jüdischen Wurzeln entdeckten. Erst waren sie schockiert, dann konvertierten sie. "Ich kämpfe jeden Tag, um meine alten Ideen loszuwerden", sagt der 33-Jährige heute. Sein Weg zeigt auch die erstaunliche Renaissance des Judentums in Polen.

Wenn Pawel in den Spiegel schaut, sieht er manchmal immer noch einen Neonazi-Skinhead zurückstarren. Den Mann, der Pawel war, bevor er seinen rasierten Kopf mit einer Kippa (Käppchen) bedeckte, seine faschistische Ideologie für die Thora über Bord warf und Gewalt und Hass gegen die Gnade Gottes tauschte.

„Ich kämpfe immer noch jeden Tag, um meine alten Ideen loszuwerden“, sagt Pawel, ein 33-jähriger ultraorthodoxer Jude und ehemaliger Lkw-Fahrer. Und er merkt ein wenig ironisch an, dass er aufhören musste, Juden zu hassen, um einer zu werden. „Wenn ich ein altes Bild von mir als Skinhead sehe, schäme ich mich“ sagt er. „Jeden Tag, jede Minute. Es gibt eine Menge nachzuholen.“

Pawel, der sich hebräisch Pinchas nennt, hat darum gebeten, seinen Nachnamen nicht zu veröffentlichen. Aus Angst davor, dass seine alten Neonazi-Freunde ihn oder seine Familie ausfindig machen könnten.

UNGLAUBLICHE RÜCKBESINNUNG ZUM JUDENTUM

Pawel ist vielleicht das bisher unglaublichste Beispiel einer Rückbesinnung zum Judentum, die in Polen derzeit stattfindet. Hunderte Menschen, die meisten von ihnen als Katholiken aufgewachsen, treten entweder zum Judentum über oder sie entdecken ihre eigenen jüdischen Wurzeln – Jahrzehnte, nachdem sie im Zweiten Weltkrieg verloren gingen.

Vor 1939 war Polen die Heimat von mehr als drei Millionen Juden, über 90 Prozent von ihnen wurden von den Nazis während des Holocaust ermordet. Die meisten Überlebenden wanderten aus. Von den weniger als 50.000, die in Polen geblieben sind, gaben viele entweder ihre Zugehörigkeit zum Judentum auf oder versteckten sie im Laufe der kommunistischen Unterdrückung, während der es weiter zu politischen Pogromen gegen Juden kam.

Aber 20 Jahre nach dem Fall des Kommunismus habe eine Abrechnung mit der Geschichte eingesetzt, sagt Michael Schudrich, der Oberrabbiner von Polen. „Pawels Verwandlung illustriert, wie weit das Land gekommen ist“, sagt er. „Vor 1989 gab es ein Gefühl, dass es gefährlich ist, zu sagen, dass man Jude ist“, meint Schudrich. „Aber heute gibt es ein wachsendes Gefühl, dass die Juden ein fehlender Körperteil Polens sind.“

Vor fünf Jahren gab es etwa 250 Familien in der jüdischen Gemeinde in Warschau. Heute sind es 600, und die Zahl der Rabbiner im Land ist von einem auf acht gestiegen. Die Cafés und Bars der alten jüdischen Viertel in Krakau sind voll mit Menschen, die zum Judentum konvertiert sind und israelische Hip-Hop-Musik hören. Auch mehrere Priester sind zum Judentum übergetreten.

Pawels Transformation vom katholischen Skinhead zum Juden begann in den 1980er-Jahren in einer düsteren Umgebung, die von Warschauer Betonhochhäusern geprägt war. Pawel und seine Freunde reagierten damals auf die erdrückende Einheitlichkeit des Sozialismus mit Antisemitismus und rechtsextremer Ideologie.

Sie rasierten sich die Köpfe, trugen Messer und begrüßten sich mit dem erhobenen rechten Arm, dem Hitler-Gruß. „Oi wej, ich hasse es, das zuzugeben, aber wir verprügelten jüdische und arabische Kinder und Obdachlose“, erzählt Pawel in der Nozyk-Synagoge. „Wir sangen dummes Zeug, vom Teufel und davon, Menschen zu töten. Wir glaubten, dass Polen nur für Polen da sei.“

Eines Tages, erinnert er sich, schwänzten er und seine Freunde die Schule und nahmen einen Zug nach Auschwitz, wo sie das NS-Vernichtungslager besuchten. „Wir machten Witze, dass die Ausstellung noch größer sein sollte und dass die Nazis noch mehr Juden hätten töten sollen“, sagt er.

Pawels streng katholische Eltern, eine Lehrerin und ein Geschäftsmann, vermuteten zwar, dass er Skinhead war. Aber sie hofften, das würde vorübergehen. „Ich wurde für das, was ich tat, nie verhaftet und eingesperrt. So war meinen Eltern nicht klar, was ich für schlimme Dinge trieb“, sagt er. „Aber sie regten sich auf, wenn ich morgens verwundet und blutüberströmt nach Hause kam.“

GEHÜTETES FAMILIENGEHEIMNIS

Selbst als Pawel Neonazi wurde, habe er Angst gehabt, dass seine Identität auf einer Lüge aufbaute. Sein Vater, der stets in die Kirche ging, schien das Alte Testament mit allzu großem Eifer zu zitieren. Sein Großvater deutete Familiengeheimnisse an. „Einmal, als ich zu meinem Großvater sagte, die Juden seien schlecht, explodierte der und schrie mich an: „Wenn ich noch einmal höre, dass du solche Dinge in meinem Haus sagst, wirst du nie mehr hierher zurückkehren!“

Pawel trat in die Armee ein und heiratete mit 18 ein befreundetes Skinhead-Mädchen. Aber sein Selbstwertgefühl änderte sich unwiderruflich im Alter von 22 Jahren. Seine Frau Paulina hegte den Verdacht, jüdische Wurzeln zu haben. Sie ging zu einem genealogischen Institut und entdeckte Pawels Großeltern mütterlicherseits in einem Register der Warschauer Juden, zusammen mit ihren eigenen Großeltern.

Als Pawel seine Eltern damit konfrontierte, brachen sie zusammen und sagten ihm die Wahrheit. Dass seine Großmutter mütterlicherseits Jüdin gewesen sei und den Krieg überlebt hatte, indem sie sich in einem Kloster versteckte. Sein Großvater väterlicherseits, auch ein Jude, hatte sieben Geschwister, von denen die meisten im Holocaust umkamen.

„Ich ging zu meinen Eltern und schrie sie an. Man muss sich das vorstellen: Ich war ein Neonazi und hörte diese Nachricht. Ich konnte nicht in den Spiegel schauen, wochenlang. Es war ein Schock, und es ist immer noch ein Schock für mich“, sagt Pawel. „Meine Eltern waren die typischen Nachkommen von jüdischen Überlebenden des Krieges, die ihre jüdische Identität verbargen, um ihre Familien zu schützen.“

Daraufhin entschied er sich, zu Rabbi Schudrich zu gehen, der ihm eine Kopie der hebräischen Bibel gab. „Ich verbrachte Wochen zurückgezogen wie eine Schildkröte und hinterfragte alles, was ich bisher geglaubt hatte. Ich hatte ein starkes Gefühl tief in mir, dass ich es tun musste: dass ich Jude werden musste. Ich fragte einen Rabbi, warum ich mich so fühlte. „Die schlafenden Seelen deiner Ahnen rufen nach dir‘, antwortete er.“


pawel
Foto: Adam Lach/The New York Times /Re/New York Times
Pawels Transformation vom katholischen Skinhead zum Juden begann in den 1980er-Jahren

MÜHSAME IDENTITÄTSSUCHE

Pawels Wandel zum Juden war mühsam, fast so, als wäre er wiedergeboren worden. Er zwang sich, noch einmal „Mein Kampf“ zu lesen. Aber er kam nicht bis zum Ende, weil er sich körperlich abgestoßen fühlte. Mit 24 Jahren wurde er beschnitten. Zwei Jahre später entschied er sich, zu einem orthodoxen Juden zu werden.

Seine Frau begann, einen Scheitel (Perücke) zu tragen, die Kopfbedeckung orthodoxer Frauen. Heute haben die beiden zwei Kinder, die sie nach jüdischer Tradition aufziehen. Pawel lernt, ein Schochet zu werden, ein Schlachter, der die Tiere nach den jüdischen Ernährungsvorschriften tötet. „Ich kann gut mit Messern umgehen“, erklärt er.

Pawel genießt die Sinnhaftigkeit und die Disziplin, die das ultra-orthodoxe Judentum in sein Leben gebracht haben. Er gibt zu, dass er von Extremen angezogen wird.

„Wenn ich etwas tue, mache ich es nicht nur halb“, sagt er. „Ich kämpfe immer noch damit, jeden Morgen aufzustehen und zu beten. Ich muss mich immer daran erinnern, dass ich, wenn ich Fleisch esse, meinen Kaffee nicht mit Milch trinken kann. Denn das ist nicht koscher. Ich muss immer erst nachdenken, bevor ich etwas mache.“

Seine Eltern sind nicht zum Judentum übergetreten. Aber Pawels Mutter besucht ihn manchmal am Freitag und zündet die Schabbatkerzen an. Als sein Vater im vergangenen Jahr starb, ging Pawel auf den katholischen Friedhof und sprach am Grab das Kaddisch, das jüdische Totengebet.

Während das demokratische Polen versucht hat, die Geschichte des Antisemitismus zu überwinden, indem es eine enge Beziehung zu Israel pflegt, Klezmermusik und jiddische Schriftsteller zu nationalem Kulturgut machte und sich für frühere Übertretungen entschuldigte, merkte Pawel, dass er weiter von den gleichen Antisemiten ins Visier genommen wird, die ihn einst zu den ihren zählten. Zwar lobt Pawel die neue Offenheit gegenüber dem Judentum in der jüngeren Generation der Polen. Einige, sagt Pawel, hätten aber noch den Hass der Eltern verinnerlicht.

„Wenn junge Leute mich auf der Straße mit meinem Hut und den Schläfenlocken sehen, dann lachen sie manchmal über mich. Aber die alten Damen sind am feindseligsten“, sagt er. „Manchmal benutzen sie die Sprache, die ich verwendet habe, als ich ein Skinhead war, und sagen: „Verschwinde, geh zurück in dein Land‘ oder „Juden geht nach Hause.“ Andere hingegen fühlen die große Lücke, die die getöteten Juden in Polen hinterlassen haben. Die grüßen mich mit „Schalom.“

Auch wenn die Herausforderungen noch immer groß seien, so hält Rabbi Schudrich Pawels Transformation doch für ein speziell jüdisches Lehrstück über die Möglichkeit, Dinge zu ändern. „Die Lehre von Pawels Geschichte ist, dass man niemals die Hoffnung verlieren sollte“, sagt er. „Das Unmögliche dauert nur ein wenig länger.“

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